Von alters her beansprucht die Zytturmuhr das Erstschlagrecht: Sie ist den Kirchturmuhren der Stadt Luzern immer eine Minute voraus. Ein europäisches Unikum sind die zehn historischen Uhrwerke, die im Schaulager zu sehen sind.
Die Stadtuhr im Zytturm ist kein Automat. Sie muss jeden Tag von Hand aufgezogen werden und dies seit 1385. Diese Woche obliegt diese freiwillige Pflicht Marco Lego Wicki. Er steigt jeden Vormittag die hundert Treppenstufen zur fünften Etage hinauf. Dort setzt er sich in der Uhrenstube auf einen kleinen Hocker und dreht an der Kurbel des Gehwerks, an der 140 Kilo Gewicht hängen.
Sechsmal muss «Lego», wie sie ihn seit Pfadizeiten nennen, die Hand wechseln, um den schweren Gewichtstein zügig hochzuziehen. Das Gehwerk, der mechanische Motor der Uhr, läuft nun für weitere 24 Stunden. Nachher wechselt er den Platz in der engen Uhrenstube und zieht den etwas leichteren Gewichtsstein für das Schlagwerk mit der linken Hand hoch, immerhin 75 Kilo schwer.
Im Zytturm befindet sich das älteste Uhrwerk der Innerschweiz mit schweren Steingewichten und langem Pendel.
Die Glocke schlug für die
Schiffsleute
Der Zytturm, zu Beginn des 15. Jahrhunderts gebaut, gehörte zur Stadtbefestigung. Doch diente er als einziger der neun Museggtürme nicht der Verteidigung. Das grosse Zifferblatt auf der Südseite, gestützt von zwei Wilden Mannen, zeigte der Stadtbevölkerung und den Schiffsleuten auf dem See die genaue Uhrzeit an.
1788 musste eine grössere Glocke gegossen werden, damit sie auf dem See weiterhin zu hören war. Die alte Leodegar-Glocke wurde in die Hofkirche verschoben, wo sie sich immer noch befindet. Zifferblatt und die Turmbemalung wurde letztmals 1939 durch den Kunstmaler Karl Schobinger erneuert.
Wer den Zytturm betritt, steht staunend vor der alten Rathaus-Uhr mit dem riesengrossen Zifferblatt und dem handgeschmiedeten, fast 900 Kilogramm schweren Uhrwerk von 1526. «Die alten mechanischen Uhrwerke sind technische Meisterwerke», sagt Remo Ronchetti, Präsident des Vereins Turmuhren Luzern. Zusammen mit dem langjährigen Stadtuhrmacher Jörg Spöring hat er das Schaulager mit zehn historischen Uhrwerken realisiert. Remo Ronchetti, Dipl. Ing. ETH, war seit jeher fasziniert von diesem alten Handwerk, wo jedes Rädchen ins andere greift.
So brachte er von einem England-Aufenthalt drei alte Standuhren nach Hause, die er dann selbst restaurierte. Und als es darum ging, die Senti-Uhr instand zu setzen, liess er sich als Praktikant bei der Muff Kirchturmtechnik AG in Triengen ins Metier einführen. «Mich fasziniert, wie diese Technik aus Stahl seit 500 Jahren funktioniert», sagt Ronchetti.
Remo Ronchetti vor der alten Rathaus-Uhr von 1526
Zytturm mit den zwei Wilden Mannen
Oben und im Titelbild: Senti-Uhr
Turmuhren landeten im Alteisen
Im Lauf der Zeit wurden alte Turmuhren oft ausrangiert. «Sie wurden mit der Elektrifizierung ausgemustert und durch neue Uhren ersetzt, die per Funk ferngesteuert werden», sagt der Uhrentüftler Remo Ronchetti. Viele Uhrwerke verstaubten in einer Ecke, wie die Hergiswald-Turmuhr, andere landeten im Alteisen. «Wir haben gerettet, was zu retten war.»
Trotz Fronarbeit ist die Restaurierung kostspielig. Allein für die Burgerturm-Uhr musste der Verein 30 000 Franken aufbringen. Inzwischen sind im Schaulager, das die Uhrenhandwerkskunst eindrücklich veranschaulicht, zehn historische Turmuhren zu besichtigen. Einzigartig ist zum Beispiel die Sentispital-Uhr, die zwei Halbzifferblätter aufweist und einen einzigen Stundenzeiger mit zwei unterschiedlich langen Armen.
Ein Zeitrichter bestimmte die Luzerner Zeit
Wir stehen auf der sechsten Etage, geniessen die tolle Sicht auf Stadt und See. Da beginnt die Glocke im Zytturm die zehnte Stunde zu schlagen, erst eine Minute später folgen die Stadtkirchen. Von alters her kommt dem Zytturm das Privileg des Erstschlagrechts zu.
Im Mittelalter war der Zeitbegriff ohnehin ein anderer. Nur die Stunden zählten. Die nächsten Turmuhren befanden sich in Basel und Mailand. «Die Zeit war damals nicht so streng getaktet wie heute», sagt Remo Ronchetti, «jede Stadt hatte ihre eigene Lokalzeit, die der Zeitrichter bestimmte.» Sie richtete sich nach dem Stand der Sonne; stand sie am höchsten, war Mittag.
Verein Turmuhren im Zytturm Luzern
Die Vision, im Zytturm eine permanente Ausstellung von Turmuhren einzurichten, entstand vor gut vierzig Jahren. Auf Initiative von Remo Ronchetti wurde diese Vision zusammen mit dem Stadtuhrmacher Jörg Spöring (1971 bis 2011) ab 2011 in knapp zwanzig Monaten in die Realität umgesetzt. Sie brachten zehn historische Turmuhren in den Zytturm und restaurierten diese fachmännisch. Der Verein Turmuhren im Zytturm Luzern, 2011 gegründet, will die Einzigartigkeit der Turmuhrentechnik pflegen und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Im April 2012 wurde das Schaulager mit historischen Turmuhren eröffnet und gilt heute als europäisches Unikum. Pro Jahr besuchen über 100’000 Personen den Zytturm. Die Ausstellung ist vom 1. April bis zum 1. November, jeweils von 7.30 bis 19.00 Uhr geöffnet. Der Besuch ist gratis. Führungen werden während des ganzen Jahres unter remo.ronchetti@bluewin.ch angeboten.
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Dieses Interview erschien in der Museggmauer Zytig. Sie erscheint jährlich und wird in gedruckter Form den Mitgliedern verteilt. Sie kann auch online nachgelesen werden: